Sieben auf einen Streich!

Geschrieben am 04.10.2015 von Bernd Rosen

Abschlussbericht von der Jugendeuropameisterschaft

Kinder, dass ich das auf meine alten Tage noch erleben darf! Nachdem ich mich über die Jahre immer besser in die Rolle des Niederlagen - Erklärers hineingefunden habe, der regelmäßig via JugendSchach erläutert, warum unsere Jugendspieler bei den internationalen Wettbewerben trotz hoher ELO-Zahlen ohne zählbare Erfolge bleiben, staune ich diesmal zusammen mit unserer Delegation und dem Rest von Schachdeutschland über den einmaligen Siegeslauf von Leonid Sawlin, der nach seiner Startniederlage sage und schreibe sieben Partien en suite gewann und mit einem hart erkämpften Remis in der Schlussrunde seinen knappen Vorsprung von einem halben Punkt über die Ziellinie rettete.

Der Erfolg hat bekanntlich im Gegensatz zum Waisenkind Misserfolg viele Väter. War es das Innenministerium, das mit seinen Kürzungandrohungen dem erfolglosen deutschen Schachsport endlich den Leistungsgedanken eingeimpft hat? Absurd! War es Bernd Vökler mit seiner Idee des Jugendmasters als bessere Vorbereitung auf die EM? Ein naheliegender Gedanke, aber Leonid Sawlin hat gar nicht teilgenommen. Er selbst nennt in einem Interview auf der DSB-Seite neben seinem EM-Trainer Alexander Lagunow, der ihn sehr gut auf die Partien eingestellt hat, einen ganz anderen Grund für das überraschende Resultat: Ich gehe zur Zeit in die elfte Klasse des Max-Planck-Gymnasiums in Berlin und seit ich dort mehr gefordert werde, läuft es auch im Schach besser! Ich musste scheinbar erst Lernen lernen.

Alexander Lagunow, Leonid Sawlin und Bernd Vökler
Alexander Lagunow, Leonid Sawlin und Bernd Vökler

 

Wie überraschend ist der Erfolg von Leonid eigentlich? Statistisch sollten doch die ELO-Zahlen eine gute Grundlage für Prognosen sein, und danach hätten in der U16 der Rumäne Bogdan-Daniel Deac und der Grieche Nikolas Theodorou mit ihren 2455 bzw. 2450 ELO-Punkten weit vor ihm landen müssen. Tatsächlich beendeten die beiden Setzlistenersten das Turnier mit jeweils 5,5 Punkten auf den Plätzen 17 und 21. Ein Einzelfall? Keineswegs! Bei einem Blick in die Abschlusstabellen der 12 Gruppen stellen wir vielmehr fest, dass die Ersten der Setzliste nicht nur keine einzige Goldmedaille holen konnten, sondern unter den Medaillenträgern überhaupt nicht vertreten sind! Vor diesem Hintergrund erscheint es nuir logisch, dass Russland nicht nur die zahlenmäßig stärkste Delegation stellte (107 Aktive!), sondern auch die mit Abstand erfolgreichste, wie ein Blick in den Medaillenspiegel lehrt: 6 von 12 zu vergebenden Goldmedaillen und insgesamt 13 mal Edelmetall sind eine stolze Bilanz.

Nicht zu unterschätzen ist auch der Faktor Erfahrung: Zum ersten Mal bei einem solch bedeutenden internationalen Turnier dabei zu sein kann nicht nur die Glieder, sondern auch die Gedanken gewaltig lähmen. Hinzu kommen die oft völlig fremdartigen Lebensumstände, die vor allem auf Kinder einen gewaltigen Eindruck machen. In der aktuellen Ausgabe des Schach-Magazin 64 berichtet kein Geringerer als Levon Aronian über seine erste U10-Weltmeisterschaft:

Ich spielte schlecht, aber alles war so unwirklich. Als wäre man auf einem anderen Planeten gelandet, ein Land, wo Softdrinks und Schokolade fließen... Ich habe so viel Sprite und Fanta getrunken, es war einfach zu viel.

Sie haben es vielleicht erraten: Das exotische Land, das Aronian da beschreibt, ist Deutschland, und das Turnier war die Weltmeisterschaft, die 1992 in Duisburg stattfand. Zwei Jahre später gewann Aronian übriges im ungarischen Szeged die U12-WM...

 

Auch aus meiner Prognose "Deutschland geht baden!" ist bekanntlich nichts geworden. Einzig die oben abgebildete Möwe genoss ihr Bad im Meer sichtlich, was der Schnappschuss nur unzureichend widergibt.

An Prognosen versuchen wir Trainer uns ja auch vor jeder Partie: Was wird wohl aufs Brett kommen, und wie bereiten wir den Spieler / die Spielerin darauf am besten vor? Meinen extremsten Zufallstreffer landete ich vor etlichen Jahren bei der Deutschen Jugendmeisterschaft: Ich saß mit meinem Spieler und seinen Eltern vor der Partie beim Mittagessen, als die Eltern stolz berichteten: Unser Sohn gibt niemals auf. Er kämpft immer bis zum Matt! Ich hatte gerade für JugendSchach einen Beitrag zum Thema "Patt" fertig gestellt und war voll im Thema: Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn tatsächlich bis zuletzt nach einer Rettung Ausschau gehalten wird. Mechanisch die Züge herunterspulen ist kein Kampf. Zum Beispiel kann die schwächere Partei im Endspiel manchmal noch auf eine Rettung durch Patt hoffen - indem etwa durch eine Kombination die letzten Figuren, die noch ziehen können, geopfert werden. Besagter Junge hörte es, stand auf und rettete seine anschließende Partie durch eine Pattkombination.

Nahe dran waren wir diesmal: Pauline hatte mit ihrem Heimtrainer Raiko eine Variante gegen das nordische Gambit vorbereitet. Ab der dritten Runde hatte es sich eingebürgert, dass ich mit ihr eine Partie mit der erwarteten Variante spielte. Schnell landeten wir im Endspiel - selbst ein Bauernendspiel wie in der Partie hatten wir tatsächlich auf dem Brett. Alles easy also? Keineswegs, so sehen die schwärzesten Stunden eines Schachtrainers aus:

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Insgesamt haben "meine Mädels" bei dieser Meisterschaft alle keine Bäume ausgerissen. Ganz untergegangen ist aber auch keine von ihnen, was nicht unbedingt mein Verdienst ist, mich aber doch sehr erleichtert hat. Am nächsten dran war noch Jana, die nach zwei Nullen in Folge Gefahr lief, eine lange Rochade hinzulegen. Sicherheitshalber wartete ich auf den Zuschauerrängen auf das Ende der Partie, aber dann wurde meine tröstende Schulter zum Glück doch nicht gebraucht:

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Bei der Siegerehrung war dann plötzlich auch SFK wieder mit von der Partie: Robby Kevlishvili belegte am Ende den 4. Platz in der U14 und wurde von seinen Landsleuten frenetisch bejubelt. Als auch ich ihm zur Gratulation die Hand schüttelte, provozierte dies sofort neugierige Fragen seiner Delegation.

Siegerehrung U14 mit Robby Kevlishvili (4. Platz)
4. Platz für Robby

 

Noch ein Wort zur Organisation: Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Bedingungen vor Ort überdurchschnittlich gut waren, vor allem das Hotel war wirklich gut. Wie international bei Jugendturnieren inzwischen üblich waren die Zuschauer aus dem Turniersaal verbannt – in den letzten beiden Runden hatte nicht einmal der Delegationsleiter Bernd Vökler mehr Zutritt. Allerdings bestand die Möglichkeit, von der Zuschauertribüne der großen Sporthalle aus die Partien zu verfolgen. Mit Hilfe von Feldstechern und dem Teleobjektiv der Kamera war es oft möglich, die Stellung zumindest zu erahnen. Die live übertragenen Partien konnten die Zuschauer auf der Tribüneleider ungehindert auf ihren Smartphones und Tablets verfolgen – das Verbot, solche elektronischen Geräte überhaupt mitzubringen wurde leider nicht umgesetzt. Dadurch ergaben sich natürlich auch wieder Möglichkeiten, von der Tribüne aus Einfluss auf den Partieverlauf zu nehmen.

Ungeachtet dieser Randerscheinungen werde ich sicher immer gerne an dieses Turnier zurückdenken. Das gilt auch für Pauline, Melanie und Jana, die sich am Ende freuten, dass sie das Turnier alle einträchtig mit 3,5 Punkten beendeten, und sogar bereit waren, für ein Erinnerungsfoto zu posieren:

Die Rückfahrt verlief erfreulich ereignisarm. Melanie schlief fast während der gesamten Fahrt - ein Anzeichen, wie anstrengend das Turnier letztlich doch war. Auch die Grenzkontrollen passierten wir recht schnell. Allerdings hätte ich mir nicht träumen lassen, dass quasi über Nacht in Europa überhaupt wieder solche Maßnahmen ergriffen werden - auf solche Erinnerungen an Reisen in früheren Zeiten hätte ich gern verzichtet. Familie Müdder ließ sich auch durch gezielte Provokationen (Bestimmt gibt es auch in Würzburg eine Städtetasse der Kaffeehaus-Kette Eures Vertrauens) nicht mehr zu irgendwelchen Umwegen verleiten und beschäftigte sich statt dessen lieber mit der Zukunft: Wann waren wir eigentlich das letzte Mal in Prag? Und was wäre an Kanty Mansisk denn so schlimm? Dies sind nämlich die Austragungsorte der nächsten EM und WM - man soll sich seine Ziele schließlich nicht zu niedrig setzen!

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